WG46 – zwei Briefentwürfe an Alma Mahler
Neubabelsberg, Montag, 15. oder Dienstag, 16. August 1910

[Briefentwurf I]

Dein warf neulich
d. Frage auf warum
wol in den letzten
30 Jahren allenthalben
die Kunst brach lag.
Ich \Wir/ wußte\n/ keine Antwort.
und Ich habe alsdann
Es ließ mir aber keine
Ruhe und ich habe da-
rüber neu gedacht. sollte
es nicht daran liegen, daß
das [!] fehlt, das
große treibende Element.
Es scheint mir in unse-
rem Jahrhundert nur
eine Leidenschaft zu geben
Geld. In früheren Zeiten
gab es deren mehr.
Wir haben weder Religion
noch Standesehre mehr

also welches höhere wo
soll der Künstler die
\notwendige/ Begeisterung nehmen.

[Briefentwurf II]

Freude an Deiner Arbeit   \Madrigale v. M./
Neugier auf neue Symphonie

Du bist mein unschätzbarster

Freund und reizendste Geliebte.

Da ich den Wunsch hege für Dich

mehr zutun, als für irgend einen
Menschen den ich \je/ auf der Welt ge-
kannt habe.

\An Hand meiner Notizen/

 Aus Interesse für mich findest Du vielleicht
so viel Geduld, Dich hin durch zuwühlen
——
Nur sehr große umfaßende Begriffes\komplexe/
jedes Wort \Bezeichnung/ nimm als \Element auf, als/ Symbol
für. \\###/ aus der ewig labilen/ Ideale Extreme
deshalb hüte Dich, zusehr an Beispiele
zu denken und versuche Dich
rein metaphysisch damit zu be-
schäftigen. Bei Deinem instinkt-
mäßigen Empfinden für
Blutsfragen, und lediglich
darum handelt es sich bei
dieser Betrachtung, erhoffe ich
Du versteheändnis.

Man könnte eine Geschichte

des Schattens schreiben und
In ##z warf Dein die
Frage auf, weshalb wol die Kunst allent-
halben seit 50 Jahren dermaßen dar-
nieder liegt, Ich habe wie in keiner
Zeit der Geschichte zuvor. Ich habe
darüber nachgesonnen u glaube
den grund eben in dem mora-
lischen Suchen zu müssen. Das
stärkste Ideal der modernen Welt
ist das Geld, daneben giebt es

kein Ideal \von/ gallgemeiner Bedeu-
tung, an das sich der Künstler
richten könnte, um vorallem
verstanden zu werden (wie in
früheren Zeiten die Religion)
Heute kann er sich mhöchstens
an eine Cligque wenden, deren
Dau Wert u Dauer begrenzt ist.
Es fehlt der moralische Sammel-
punkt, der Be die der Kunst
notwendige Begeisterung weckt


Apparat

Überlieferung

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Quellenbeschreibung

3 Bl. (4 b. S.) – Notizblock.

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

Antwort auf AM16 vom 10. August 1910 (Ich arbeite. […] Alles das ist mir eine große Freude): Freude an Deiner Arbeit, AM18 vom 13. August (Dein Blut . . . . und meines \?/?): Blutsfragen und AM19 vom 14. August 1910 (obwohl er [GM] gerade jetzt eine ganze Symphonie gemacht hat – mit allen Schrecken dieser Zeit drin): Neugier auf G.[ustav]s neue Symphonie.

Datierung

Bei den vorliegenden Blättern handelt es sich um Notizen WGs ( und ), die sich zu einem Briefentwurf ( und ) entwickelten. Aufgrund der Korrespondenzstellen, die sich auf mehrere Briefe AMs beziehen (AM16, AM18 und AM19), ist dieser Entwurf nach Erhalt des letzten Briefes dieser Reihe, AM19 vom 14. August, entstanden, den WG wahrscheinlich sofort nach dem Eintreffen am 15. oder 16. August 1910 beantwortete.

Themenkommentar

Übertragung/Mitarbeit


(Marie Apitz)
(Elke Steinhauser)


A

neulich – Sollten sich und tatsächlich über diese Fragen unterhalten haben, so kämen dafür nur ihre Begegnungen in Tobelbad und Toblach infrage. Letzteres erscheint aufgrund der Dramatik der Situation eher unwahrscheinlich, gegen einen Austausch in Tobelbad spricht hingegen Formulierung neulich.

B

Madrigale v. M. – Madrigale: mehrstimmige italienische Vokalgattung des 14.–17. Jahrhunderts, zu Beginn des 20. Jahrhunderts unüblich. M. könnte sein, einer der führenden Komponisten der Spätzeit dieser Gattung.

C

G.[ustav]s neue Symphonie – s. Themenkommentar: Gustav Mahlers Zehnte Symphonie.